Einblick gewinnen

We are the zanies of sorrow. We are clowns whose hearts are broken.

Oscar Wilde – De profundis

Springbock nach Art des Hauses

Jason war 15. Aber das stand nicht in seinen Papieren. Seit drei Jahren bekam er an einem bestimmten Tag neue, in denen sich das geschriebene Geburtsjahr seinem tatsächlichen annäherte. Seit drei Jahren war er 18.
Er wohnte auch nicht in der Kantstaße 14. Nein, das war die Wohnung von Gernot, diesem bulligen Kerl, dessen Alter Jason nicht schätzen konnte und der auf ihn aufpasste.
Eigentlich hieß Jason auch gar nicht Jason, sondern Aljoscha. Aber die Männer, die sich seiner angenommen hatten, hatten diesen Namen nie aussprechen können.
Im Prinzip war er hübsch. Ein wenig schmächtig vielleicht, doch mit wunderschönen braunen Locken gesegnet, die ihm nur allzu oft über die blauen Augen fielen.
Er hatte schlanke Gliedmaßen mit feingliedrigen, langen Fingern. Seine Haut war ebenmäßig und er wirkte gepflegt. Immer. Weil die Männer es so wollten.
Sie kleideten ihn ordentlich. Sorgten dafür, dass er zu essen bekam und ein Dach über dem Kopf hatte. Schläge gab es nur selten, wenn Jason nicht das tat, was sie von ihm verlangten. Ansonsten ließen sie ihn in Ruhe.
Ohnehin redeten sie so gut wie nichts miteinander.
»Tische!« – Sei still. Das war das einzige russische Wort, das sie beherrschten. Gernot konnte noch ein paar Brocken, aber die reichten nur, um Jason zu beleidigen. Und Jason konnte kein Deutsch. Nur einzelne Wörter, die man ihm beigebracht hatte, damit er die Kunden verstand. Ein paar Zahlen – fünfzig, hundert, zweihundert – und Verben.

»Hey, steh da nicht rum und träum! An die Arbeit!«, fauchte eine raue Männerstimme und Jason fuhr auf. Gernot, der gerade die Bar betreten hatte, blickte ihn wütend an und scheuchte ihn fort von der Wand neben der Tür, an der er eben noch gelehnt hatte. »Dawai!«
Jason hielt es für besser zu verschwinden und aus Gernots Schusslinie zu kommen. Wenn er schon brüllte, wenn er um fünf zur Arbeit kam, hieß das nie etwas Gutes. Und auf Schläge wollte Jason heute lieber verzichten.
Das »Malchik« öffnete erst ab sechs Uhr abends und nur für besondere Kunden. Vielmehr Kunden, die das Besondere suchten. Denn neben Jason warteten in den Räumen hinter dem Vorhang, den er gerade zur Seite schob, noch fünfzehn weitere Jungen aus Osteuropa. Keiner von ihnen war älter als siebzehn.
Im hinteren Teil der Bar gab es neben den Separees noch eine gemütliche Sitzecke, über der eine große Tafel mit den angebotenen Leistungen wie eine Speisekarte hing. Jason kannte die meisten Worte darauf. Er hatte gelernt, was sie bedeuteten. Er hasste sie. Und er hatte Angst vor manchen. Am meisten vor dem untersten, dem teuersten Angebot: »Springbock nach Art des Hauses – Beilagen frei wählbar.«
Eine Gänsehaut kroch über seinen Körper. Ihn hatte es noch nicht so oft erwischt und er betete jeden Abend, dass es bei den seltenen Torturen blieb. Jedes Mal hatte er das Bild jenes Abends vor Augen, als Juri, der ein Jahr jünger war als er selbst, von Gernot aus dem Zimmer getragen wurde – blutend, bewusstlos. Jason hatte ihn erst nach einer Woche wiedergesehen.
»Jason!« Gernots Ruf drang bis zur Sitzecke, in der sich der Junge niedergelassen hatte, um zu warten. Es war so weit. Eine neue Nacht stand ihnen bevor.
Als Jason in den Barbereich zurückkehrte, hatten sich auch Mischa, Alexej, Dimitrij – den sie Dean riefen – und der dreizehnjährige Alexander eingefunden. Gernot deutete auf die Tür, sobald Jason neben den anderen stand. Anscheinend sollten sie sich heute als erstes um die Kunden kümmern, sie begrüßen, sie einstimmen.
Jason hoffte, dass er diese Nacht überstehen würde, ohne einen Kunden »nach Art des Hauses« bedienen zu müssen. Andere Wünsche hatte er nicht – weiter in die Zukunft blickte er nicht.


07-11-2010

Kapitel Siebenhundertvierunddreißig: Es geht immer noch um mich!

Wie jeden Morgen traf ich Terrine und Bon im Speisesaal. Bon, der wie üblich damit beschäftigt war, die letzten Happen seines Frühstücks in sich hinein zu schlingen und dem dabei ein wenig Milch aus dem Mundwinkel lief. Und Terrine, die ihre rosige Stupsnase in ein dickes Buch mit der Aufschrift Strebsame Streberhaftigkeit erstreben für Fortgeschrittene gesteckt hatte, als wäre sie dort festgeklebt.
»Guten Morgen, getreue Nebencharaktere!«, begrüßte ich die beiden und platzierte mich so schwungvoll auf meinem Platz, dass mein Zauberumhang über Bons Kopf flog und ihn damit in seine Müslischüssel tunkte.
»Hey!«, murrte es unter meinem nebelnachtgrauen, gut gepflegten Zauberumhang hervor und Bon schaufelte sich zurück ans Tageslicht. Sein Gesicht triefte und an seiner Wange klebte ein kleiner Cornflakes-Drache. »Du hast mich in mein Müsli getunkt!«
»Das wissen die Leser schon!«, kommentierte Terrine seine Feststellung und hob die Nase aus dem Buch. Doch nicht angeklebt. »Und du, mein lieber Larry Schlotter, bist schon wieder zu spät zum Frühstück erschienen!«
Ich zuckte die Achseln. »Ich brauche meinen Schönheitsschlaf, schließlich sind meistens alle Augen auf mich gerichtet. Da kann ich es mir nicht leisten, von Früh bis Spät zu lesen und dann so auszusehen wie du. Oder wie Bon«, der sich gerade mit seinem Hemdärmel das Gesicht putzte und damit viel zu beschäftigt war, um mir zuzuhören. Ein Frevel eigentlich.
Terrine überging wie immer meine Anspielung, dass sie auch mit aller Strebsamkeit unserer geheimen Zaubererwelt zusammen niemals auch nur in die Nähe meiner Position kommen würde. »Also wirklich, Larry, ein wenig Lernen würde dir ab und an gut tun. Alles, was du tust, ist Kwidditsch spielen oder wichtige Gesichtsausdrücke üben! Oder du fuchtelst mit deinem Zauberstab. Oder verschwindest wieder für ein paar Stunden in Mumbledoors Büro – weiß der Henker, was du da mit ihm tust!«
Ich schenkte ihr einen mitleidigen Blick. »Terrine«, sagte ich sanft und langgezogen. Während einer gut geplanten, theatralischen Pause schob ich mir drei Marmeladenbrötchen und zwei Eier in den Mund. »Ich brauche nicht lernen. Ich kann ohnehin alles. Und wenn ich etwas nicht kann, dann hilft mir der Zufall oder Mumbledoor oder der fiese, schmierige Snake oder einfach nur Volldehorsts eigene Doofheit. Du scheinst zu vergessen, dass ich der Hauptcharakter bin! Ich bin unsterblich!«
»Allerdings ist auch ein Hauptcharakter nicht vor Schulverweisen oder Einträgen ins Klassenbuch gefeit, weil er zu spät zum Unterricht erscheint!«, donnerte eine Stimme hinter mir und jemand schlug mir mit der aktuellen Ausgabe des Tagesproleten auf den Kopf. Als ich mich wutentbrannt über diese ungeheuerliche Respektlosigkeit umwandte, erkannte ich Professor Snake, der sich wie eine Kobra mit gespreizten Halshäuten über mir aufgebaut hatte. Bevor ich ihm meine überaus wichtige Meinung zu seiner Untat an den Kopf werfen konnte, hatte er mich, Bon und Terrine zugleich an den Umhängen gepackt, hochgehoben und in Richtung Ausgang des großen Saales geschleudert.
»Wie ich weiß, haben Sie alle in zwei Minuten Verteidigung gegen die dumme Magie, also täten Sie besser daran, sich zu Ihrem Unterrichtsraum zu bewegen!«, zischte er und züngelte mit seiner gespaltenen Zunge.
Terrine und Bon ergriffen, wie es sich für Nebendarsteller gehörte, brav die Flucht, nur ich baute mich im Eingang zu meiner vollen Größe von einem Meter vierundfünfzig auf.
»Das wird noch mal ein Nachspiel für Sie haben, Professor Snake! Früher oder später kommt eine noch hässlichere Schlange als Sie es sind und beißt Sie für Ihre Unverschämtheit mir gegenüber tot!«
Damit nahm ich die Beine in die Hand. Gerade rechtzeitig, denn sein »Avada Kedavra!« schoss um Haaresbreite an mir vorbei und erlegte die Katze des Hausmeisters.

Natürlich kam ich genau rechtzeitig zum Unterricht. Auch wenn Professor McDonaldall das anders sah und mir eine Stunde Nachsitzen aufbrummte, weil ich angeblich bereits die Hälfte der Stunde verpasst hatte. Was konnte ich dafür, wenn ich von diesem dämlichen Snake ewig aufgehalten wurde?
In dieser Stunde sollten wir uns mithilfe eines einfachen Zaubers, den auch nach fünf Minuten Üben niemand – außer Terrine – aussprechen konnte, gegen eine Horde angreifender Todesser verteidigen. Keine Ahnung, wann ich so was jemals brauchen sollte.
Terrine schaffte es natürlich auf Anhieb, das Rudel Irrwichte, das sich als Todesser verkleidet hatte, mit diesem Spruch zum Explodieren zu bringen. Für ein paar Zeilen heimste sie doch tatsächlich den ganzen Ruhm und die ungeteilte Aufmerksamkeit der Leserschaft ein, indem sie damit zehn Punkte für unser Haus Grievingmore verdiente.
Das konnte ich nicht auf mir sitzen lassen!
Ich schwang, wie ich es viele Male übenderweise im Gemeinschaftsraum zur Schau gestellt hatte, meinen Zauberstab, rief laut irgendwelchen Kauderwelsch, den ich mir gerade ausgedacht hatte und zielte auf den Käfig mit den Irrwichten. Der dummerweise am anderen Ende des Raumes stand.
So bekamen anstelle der kleinen Gollum-Schlümpfe meine Mitschüler und Professor McDonaldall ein Feuerwerk epischen Ausmaßes ab. Mein Zauberstab sprühte rote, gelbe, blaue, grüne, pinke, weiße, orange, violette, karmesinrote, fliederne, ockerfarbene, olivgrüne, pfirsichfarbene und aquamarine Funken und Feuerkugeln gigantischer Größe. Ich fragte mich gerade, wieso denn keine veilchenfarbenen Feuerbälle dabei waren, als mich eine vollkommen verkohlte McDonaldall zu Boden riss und mir meinen Zauberstab aus der Hand schlug.
Mit einem beherzten Schwung ihres eigenen Stabs beendete sie mein unglaublich gelungenes Schauspiel und löschte die Schüler, die Feuer gefangen hatten.
»Sind Sie eigentlich vollkommen geistesgestört, Schlotter?!«, herrschte sie mich an, als sie von mir herunter gestiegen und ihren Umhang gerichtet hatte. »Sie haben keine Ahnung, was Sie tun, aber brennen mir im Unterricht nebenbei halb Hockwarz nieder! Es täte Ihnen gut, mal nachzudenken, bevor Sie handeln!«
»Pah!«, machte ich und warf mich in Positur. »WER von uns beiden hat denn Volldehorst besiegt? Das war ja wohl ICH, weil ICH die Hauptfigur bin und SIE nur eine unbedeutende Randfigur, die vergeblich versucht, mir Wissen und soziale Fähigkeiten und anderen unnötigen Kram einzutrichtern! Wahrscheinlich sind Sie eh nur neidisch, was ICH im Stande bin zu tun!«
Ich beruhigte mich schnell, denn Aufregung war nicht gut für meinen Teint. Meine Brille zurechtrückend – ich legte dabei meine Haare so zurecht, dass die fragezeichenförmige Narbe auf meiner Stirn gut zu sehen war – klopfte ich ein bisschen Asche eines ehemaligen Schülers von meinem Umhang.
»Und jetzt entschuldigt ihr mich, ich muss mich auf das Kwidditsch-Spiel heute Nachmittag vorbereiten.«
Mit wehendem Umhang verließ ich den Raum, eine fette schwarze Qualmwolke quoll in den Gang, als ich die Tür öffnete. Während die anderen mir fasziniert hinterher starrten, überlegte ich, was ich ein paar Minuten zuvor von mir gegeben hatte. Dieses Feuerwerk war perfekt, um es nachher gegen den gegnerischen Sucher einzusetzen.


02-01-2011

Besuch

Ich sehe kaum mehr die Hand vor Augen. Überall ist nichts als Wasser. Peitschendes Wasser und Sturm. Blitze zucken. Sofort rollt ein ohrenbetäubender Donner über mich hinweg.
Alles schaukelt. Rasend schnell – hoch, runter, hoch, runter, hoch …
Ich schlucke Wasser, schmecke Salz, sehe wie in Zeitlupe einen Blitz auf mich zuschnellen, zeitgleich zerreißt mir ein Grollen fast das Trommelfell.
Dunkel.

Ich spüre Sand unter meinen Händen. Nassen, grobkörnigen Sand. Und ein leichtes Wogen.
Die Sonne blendet mich, als ich blinzle. Wie ein nasser Maikäfer liege ich im seichten Uferwasser, fühle mich schwer und erschöpft.
Ich lebe, schießt es mir durch den Kopf. Ich lebe noch.
Nach einer Weile ist es mir gelungen, mich mit recht unkoordinierten Bewegungen aufzurichten, und ich wate aus dem Wasser, blicke mich um.
Nichts.
Dieses Eiland besteht einfach aus nichts. Nur ein paar feuchte Holzteile liegen am Strand um mich herum, ansonsten erstreckt sich über zwei, vielleicht drei Meilen nichts als Sand.
Ich lebe, schießt es mir durch den Kopf, nicht mehr lange.
Die Sonnenstrahlen und der Meerwind trocknen mich, als ich quersandein stolpere. Irgendetwas muss es doch hier geben!
Als ich vor mir die Wellen ans Ufer schwappen sehe, sickert die Gewissheit in mein Bewusstsein: Ich bin allein mit Tonnen von Sand, ein paar Steinen und toten Muscheln am Strand.
Ich setze mich, starre hinaus auf das endlose Blau. Wahrscheinlich wäre es besser gewesen, es hätte mich in der Nacht gleich verschluckt. Und nicht auf dieses Ödland gespuckt, auf dem ich kläglich verhungern und verdursten würde.

Zwei Tage lang glüht die Sonne auf mich nieder, der Wind pfeift mir um die Ohren. Obwohl ich zittere, ist meine Haut krebsrot gebrannt. Ich fühle mich ausgedörrt und würde eine Möwe roh essen, käme eine hier vorbeigeflogen.
In der Abenddämmerung fällt mir ein schwarzer Punkt am anderen Ende der Insel auf. Er wird größer, je länger ich ihn beobachte. Halluziniere ich?
Bis auf das Rauschen der Wellen und das Pfeifen des Windes ist es ruhig. Keine Schritte, kein Vogelkreischen. Der Punkt bekommt klarere Konturen – menschliche Konturen mit seltsamen Proportionen. Alles ist viel zu kurz, der Kopf etwas zu groß.
Ein Kind?, fragt mein dampfendes Hirn.
Ein Kind?, frage ich gedanklich zurück, als müsste ich mich vergewissern, das gerade gedacht zu haben. Aber das ist völlig unmöglich! Ich bin allein hier. Es gibt nicht einmal einen Baum, wo sollte ein Kind herkommen?
Die dunkle Gestalt kommt ohne zu zögern näher, schließlich erkenne ich, dass es tatsächlich ein Kind sein muss. Es ist nur noch wenige Meter entfernt. Es winkt.
»Hallo!«, höre ich es rufen, glasklar ist seine Stimme und freundlich sein Lächeln. Ich reagiere nicht.
»Hallo!«, wiederholt es unbeirrt, steht drei Schritte später vor mir. »Wer bist du denn?«
»Ich?«, frage ich sinnfrei – wen sollte es auch sonst meinen?
Es lächelt unbeirrt und nickt.
»Hannes«, antworte ich und ertappe mich dabei, dass ich die Hand ausstrecken und die schmale, dunkle Schulter berühren will, um mich zu überzeugen, dass ich mir dieses Kind nicht einbilde.
»Was machst du hier, Hannes?«, fragt es und setzt sich neben mich in den Sand.
»Sterben.«
Sein Lächeln verschwindet, es sieht mich verwirrt an. »Warum willst du denn hier sterben?«
»Ich will gar nicht, aber ich muss.«
Wieder trifft mich ein verwirrter Blick.
»Mein Schiff ist kaputt gegangen in einem Unwetter vor zwei Tagen. Und ich habe nichts zu essen, nichts zu trinken und keinen Schutz vor dem Wetter.«
»Du hast doch so viel Wasser um dich herum, warum trinkst du das nicht?«
Ich schüttle müde den Kopf. »»Dummes Kind. Wenn man Salzwasser trinkt, stirbt man.«
»Wenn das so ist«, sagt das kleine schwarze Kind und zieht aus einem kleinen schwarzen Beutel, den ich bisher gar nicht bemerkt hatte, ein bauchiges Ding. Flink schraubt das Kind es auf und hält es mir hin. »Du kannst von mir etwas haben.«
Ungläubig starre ich den Behälter an – dann greife ich danach und schütte mir den Inhalt gierig in den Mund. Eiskalt perlt das Wasser über meine Lippen, meine Zunge, meine Kehle hinab.
Für einen Moment vergesse ich völlig die Absurdität dieser Situation.
Mit einem »Danke« gebe ich die beträchtlich geleerte Flasche zurück, lächelnd nimmt das Kind sie entgegen und verstaut sie wieder in der Tasche.
»Wie lange musst du hier noch bleiben, Hannes?«
Ich zucke hilflos die Schultern, bin noch viel zu konzentriert auf das Gefühl der kühlen Flüssigkeit in meinem Inneren. »Bis ein Wunder geschieht.«
»Ein Wunder?«
»Ja. Ich habe nichts. Und ich weiß nicht, wo ich bin. Bis zur nächsten Küste ist es sicher weit, so weit kann kein Mensch schwimmen.«
»Also brauchst du ein Schiff. Ist das ein Wunder?«
»Ja, das wäre ein Wunder. Oder hast du auch eins in der Tasche?«
»Nein, ein Schiff nicht. Nur einen Brunnen.«
»Einen Brunnen?«
»Ja, einen Brunnen und einen grauen Elefanten.«
»Elefanten sind immer grau.«
»Das stimmt nicht, Hannes«, widerspricht das Kind trotzig und schiebt die Unterlippe nach vorn. »Es gibt sie fast in allen Farben. Rote, grüne, blaue, gelbe, rosane, weiße, violette und viele mehr. Meiner ist zufällig grau, weil er schon alt ist. Früher war er wellenkronenweiß.«
»Das gibt es nicht. Ein Elefant ist viel zu groß für deine Tasche. Und ein Brunnen auch.«
»Ist er nicht!«, widerspricht es erneut und verschränkt die Arme. »Du weißt ja gar nichts.«
Eine Weile schweigen wir.

»Woher kommst du eigentlich?«, frage ich.
»Von dort!« Es deutet nach hinten.
»Von dort? Das kann nicht sein, auf dieser Insel gibt es nichts. Ich hätte dich sehen müssen, als ich hier gestrandet bin.«
»Nein, von weiter weg.«
»Vom Meer?«
Es nickt freudig.
»Ich halluziniere.«
»Warum?«
»Ich spreche auf einer einsamen Insel, auf der es nichts gibt als Sand, mit einem kleinen Kind, das behauptet, aus dem Meer zu kommen, einen Brunnen und einen Elefanten in der Tasche hat. Wahrscheinlich kannst du auch noch zaubern und gleich kommt hier ein Schiff vorbei gefahren, das mich mitnimmt.«
»Willst du gern ein Schiff haben?«
»Hast du denn eins?«
»Nein, aber ich habe einen Fisch. Der könnte eines rufen.«
Mit einem Lachen schüttle ich den Kopf.
»Du glaubst mir nicht?«
»Nein.«
»Willst du ein Schiff?«
»Ja.«
»Dann warte hier.«

Die Spuren im Sand sind fast verweht, als der schwarze Punkt aus meinem Sichtfeld verschwindet. Das Kind ist weg. Und die Sonne hat sich hinter den Horizont zurückgezogen.

Am nächsten Morgen erwache ich von einem lauten Dröhnen. In kurzen Abständen ertönt ein tiefes Röhren. Ich öffne die Augen, setze mich auf.
Wenige Meilen entfernt fährt ein weißes Schiff mit zwei großen, schwarzen Schornsteinen.
Neben mir im Sand liegt ein grauer Elefant. Ein angemalter Stein.



09-05-2010

Der Maler

Ich male mit Gedanken.
Dein leichtfüßiger Gang. Dein hellblaues Kleid. Dein wehendes Haar, das im Licht der Sommersonne glänzt. Golden, silbern, wieder golden. Deine grünen Augen. Die zart pinken, vollen Lippen. Lächelnd. Deine schlanke Gestalt, die Arme ausgebreitet, das Gesicht dem Licht zugewandt.
Ich male mit Gedanken.
Pinselstrich um Pinselstrich verewige ich dein Bild in mir. Werde es an dunklen Tagen aus mir hervorholen. Es bewundern. Den Regen vergessen. Die Kälte verdrängen. Diesen Moment erleben. Erneut. So oft ich will.
Fast ist es, als bewegtest du dich zum Klang ungehörter Melodien. Im Takt deines Herzschlags. Meines Herzschlags. Ein Schmetterling.
Ich fange dich mit meinen Gedanken.
Du siehst mich nicht. Du tanzt. Du lebst.
Ich sitze im Schatten. Still. Reglos. Wartend. Und male dich mit meinen Gedanken.
Ah, endlich! Dein Fuß gleitet ins Wasser. Du ziehst ihn zurück, tauchst ihn erneut ein. Ziehst den zweiten nach. Machst ein paar vorsichtige Schritte. Weichst einer Fontäne des Springbrunnens aus.
Du tanzt wieder.
Umtanzt ein Kind, das im flachen Wasser auf dich zuläuft.
Tanzt weiter.
Es ist heiß. Selbst im Schatten ist es heiß. Ich will mittanzen.
Doch ich male nur. Will keinen Atemzug verpassen, kein Drehen, kein Lächeln. Kein Blick.
Ich male dunkle Punkte auf das Hellblau. Silbersterne in dein Haar. Durchsichtige Rinnsale auf deine Beine.
… es fühlen! … es sein! Ich möchte …
Das Wasser auf deiner Haut. Deiner alasbasternen Haut.
Weich. Sie muss weich sein. Und kühl.
Ich male mit Gedanken eine weiche Kühle hinzu. Ein Sehnen.
Ein Berühren. Ohne Berühren.
Eine Illusion, eine Sehnsucht. Eine Sucht.
Euphorie. Du sprühst vor Vergnügen.
Und ich male mit Gedanken. Jedes Gefühl. Jede deiner Regungen.
Wie dein Kleid sich im leichten Wind aufbäumt. Wie du es lachend herunter drückst.
Nach ein paar Minuten – Ewigkeiten, in denen ich mich verloren habe, mich wieder in ihnen verlieren werde – setzt du dich erschöpft an den Rand. Langsam gleiten deine Füße durchs Wasser. Du wendest dein Gesicht zur Sonne. Schließt die Augen. Lächelnd.
Ich fange dich. Auf. Ein. Immer wieder.
Die Pinselstriche werden zittrig. Brechen ab.
Ich möchte … möchte … raus. Aus dem Schatten. Ins Licht. Zu dir. Mit dir tanzen. Dein Haar erfühlen, deine Haut. Deine Lippen mit meiner Zunge teilen. Das Hellblau von deinem Körper ziehen. Dich kosten. Dich.
Dich.
Ich möchte … ausbrechen. Nicht nur malen! Malen. Nicht nur mit Gedanken!
Ausbrechen.
Fühlen. Selbst ertasten. Tanzen. Gehen. Ich will so gern …

Ein Ruck reißt mich zurück.
»Na, Floréan, schaust du dir die Mädchen am Springbrunnen an?«
Ich kann nicht antworten.
»Es wird Zeit zu gehen.«
Ich kann nicht antworten!
Er umfasst die Griffe meines Rollstuhls, dreht mich um. Weg von dir! Schiebt mich weg. Weg von dir!
»Hier, dein Getränk. Es ist ganz viel Eis drin, weil es ja so warm ist, Floréan.«
Mit einem »Klack« stellt mein Pfleger es auf meine Ablage. Ich kann es nicht greifen.
»Und hier, dein Strohhalm. Schön langsam, ja? – So, und jetzt lass uns mal zurück zum Heim gehen …«
Aber ich möchte doch … möchte doch … muss doch …
Ausbrechen!
Hin zu dir!
Tanzen!
Dich fühlen!

Ich erhasche einen Blick zum Springbrunnen. Du bist fort.


09-05-2010

Stau im Souterrain

»Warten Sie einfach, bis Sie an der Reihe sind!«, giftete das verhutzelte Männchen. Mit einer herrischen Geste verscheuchte er den aufgebrachten Mittfünfziger, der sich murrend und knurrend wieder einreihte.
Auch ohne solche überungeduldigen Kunden war es heute stressig genug. Immer wieder hatten die zahlreichen Pförtner mit genervten Leuten zu tun, die seit mehreren Stunden auf ihre Aufnahme warteten.
Alle Straßen waren verstopft. Bis zu den großen Toren standen die Neuankömmlinge und hinter jedem der mehrere Meter hohen Steinbögen warteten sicher noch einmal so viele. In den letzten Tagen war es verhältnismäßig ruhig zugegangen. Ein paar kleinere Autounfälle, der ein oder andere Wohnungsbrand, einzelne Tötungsdelikte. Aber dieser Erdrutsch heute in China … und der Großbrand in New York. Als wäre das noch nicht genug, hatte es durch einen Tsunami eine Überflutung in Sri Lanka gegeben und einen Terroranschlag in der Londoner U-Bahn. Es kam aber auch alles zusammen!
Die Vorhöfe der Unterwelt schienen aus allen Nähten zu platzen. Die Pförtner, warzenhäutige Gnome mit großen Augen und verbissenen Gesichtern, hatten alle Hände voll damit zu tun, all die Anwärter der Reihe nach in die Bücher einzutragen. Der gesamte Vorhof – der für sich genommen schon mehrere Kilometer maß – war angefüllt mit Stimmengewirr, dem Weinen von kleinen Kindern und erbosten Rufen über die vermeintlich umständliche Bürokratie. Doch ohne ordnungsgemäße Eintragung gab es keine Aufnahme in die Ewigkeit. Es kam ab und an vor, dass durch Unachtsamkeit ein Kunde nicht eingetragen und dennoch in die inneren Kreise vorgelassen wurde – und diesen Ärger wollten sich alle, die es einmal miterlebt hatten, ersparen.
Gerade als fast alle Opfer des Erdrutsches abgearbeitet waren und die ersten triefnassen Seelen vor den Gnomen standen, flogen mit einem ohrenbetäubenden Kreischen mehrere Harpyien durch die westlichen Torbögen. Mit wilden Flügelschlägen umkreisten sie die Schreibtische, hinter denen die Gnome mürrisch knurrten, ein paar landeten einfach auf den prallen Büchern und entließen einen fürchterlichen Schrei aus ihren gebogenen Schnäbeln. Ein paar Kinder begannen zu weinen.
Nachdem die Harpyien noch ein paar mal geschrien hatten, erhoben sie sich unter dem verärgerten Murmeln der Gnome wieder und stoben in östliche Richtung davon.
»Ein Hurrikan, das hat uns gerade noch gefehlt.« – »Was glauben die da oben eigentlich, wer wir sind?« – »Wir sind ja so schon völlig überfüllt.« – »Ich hab eh schon zwanzig Überjahre!« – »Holt mir mal einer 'nen Kaffee?!«
Das schnarrende Gegrummel der Gnome dauerte noch eine Weile an, bis nur noch wenige Seelen vor ihnen standen, die Pfützen auf den Gängen hinterließen. Dahinter warteten viele, die entweder eine ihrer Gliedmaßen oder den Kopf unterm Arm trugen oder bei denen einfach ein guter Teil fehlte. Wiederum hinter ihnen schlossen sich einige verkohlte Kunden an. Manche der Gnome, die von ihrem Arbeitsplatz eine gute Sicht nach draußen hatten, erkannten schon die ersten Opfer des Tropensturms, was sie in erneutes genervtes Gegrummel ausbrechen ließ.

»Das hat doch keine Art!« Der Kleine schlug mit der Faust auf den Tisch. Sein Gegenüber – eine hochgewachsene, schlanke Gestalt, die sich in teure schwarze Gewänder gehüllt und auf einem gewaltigen Lehnstuhl niedergelassen hatte – zog eine Augenbraue nach oben.
»Bitte, was genau meinst du, werter Pfortenvorsteher?«
»Ich meine«, ereiferte sich der Gnom, »diesen Stress, dem die da oben uns aussetzen! So kann doch kein normaler Dämon arbeiten! All die quengelnden Menschen, denen es nicht schnell genug geht. Und hat man tausend fertig, warten am Tor noch zehnmal so viele!« Seine sonst grünlich schimmernde Haut hatte sich im Gesicht rot verfärbt, so erregt war er. »Und sie sind alle die ganze Zeit am Meckern! Niemand kann sich dabei konzentrieren!«
»Und was, denkst du, soll ich da machen?«
»Wer von uns beiden ist der Boss?«, schnaubte der Vorsteher der Pförtner, dem als Gnom Respekt nicht in die Wiege gelegt worden war. »Red mal ein Wörtchen mit dem Chef da oben! Stell Getränkeautomaten in den Vorhöfen auf und Videospielautomaten!«
»Bitte?« Befremdet zog der Fürst der Unterwelt – denn mit niemand anderem unterhielt sich der Gnom – erneut eine Augenbraue bis an den Haaransatz. »Meinst du nicht, das … geziemt sich nicht für den Hölleneingang?«
»Pah! Es würde die Kunden ruhigstellen und uns würde nicht wieder so ein verdammter Fehler unterlaufen wie sonst bei solchen Großereignissen.«
Einen Moment dachte der Fürst über den Vorschlag nach, dann nickte er. »Das stimmt, das dürfen wir uns nicht noch einmal erlauben. Die Scherereien bei einer Nichteintragung sind zu verheerend. Geh und fordere beim Vorhofsminister diese Maßnahmen ein. Wir werden sehen.«
Grußlos sprang der Gnom von seinem Stuhl und verschwand durch die schwere Tür in den verwinkelten Gängen der inneren Kreise.


01-08-2010

Straßenkultur

»Ey, Alda, was geeeeeht?«, tönt es mir entgegen, als ich aus dem U-Bahnhof am Alexanderplatz trete. Zusammen mit einer grauenvollen Geräuschkulisse, die nur von einem schlechten Lied aus ebenso schlechten Handylautsprechern herrühren kann.
Willkommen in Berlin.
Ich vermeide es, mich nach dem Sprecher umzudrehen, doch das muss ich auch gar nicht. Das Handygerappe wird lauter, ein Jugendlicher mit Migrationshintergrund rennt an mir vorbei, auf einen anderen jungen Mann zu, der mit betont lässigen Bewegungen über den Platz schlendert. Beide sehen fast gleich aus: Markenschuhe, weite Jeans, pinkes Shirt im einen Fall, violettes im anderen, Pornobrille, gegelte dunkle Haare. Alles klar.
»Normal!«, begrüßt er den anderen Typen und die beiden umarmen sich kurz und zackig – soll ja nicht schwul wirken, hm?
»Ey, hassu g'höööört? Dit is voll der krasse neue Shit von Massiv, Alda!«, tönt der Kerl mit dem Handy und ich weiß endlich, wer da meine Ohren quält. Wollte ich aber ehrlich gesagt nicht wissen, denn Textfetzen konnte ich auch schon vorher verstehen – und dass es in dem Lied nicht um Bienen und Blumen geht, ist mir klar geworden.
Ich gehe ein wenig schneller, um dem tiefhängenden Niveau zu entgehen und stolpere direkt in die nächste Straßenkultur: Jemand fand es lustig, sämtliche Schaufenster in der Umgebung mit allerlei Symbolen und zweifelhaften Figuren zu besprayen. Dass das nur Idioten machen und die coolen Jungs nur sprayen, wo sie dürfen, hätte ihm vielleicht vorher jemand sagen sollen. Dann hätten die zwei Männer der Stadtreinigung jetzt vielleicht Zeit für ein Bierchen in der Bar um die Ecke – aber nein, sie haben die Ehre, Sonderschichten zu schieben, um die kreativen Auswüchse eines vermeintlichen »Street Art«-Künstlers zu beseitigen.
Als ich meinen Blick abwende, um nach dem eigentlichen Grund meiner Anwesenheit in dieser Stadt Ausschau zu halten – ich will den Fernsehturm besuchen –, fällt mir das nächste ins Auge, was diese Kulturhochburg zu bieten hat. Unweit von mir, unter der S-Bahn-Brücke, hinter der sich der Fernsehturm verbergen muss, steckt gerade ein Punk ein Beutelchen mit eindeutigem Inhalt in seine Tasche. Na, Mehl zum Backen wird der wohl nicht brauchen. Und der Typ, der ihm mit glasigen Augen und fettigem, strähnigem Haar gegenüber steht, sieht auch aus wie sein bester Kunde. Als sich der Typ verdrückt und der Punk mit einem »Hasse ma'n Euro«-Gesicht auf mich zusteuert, halte ich es für besser, einen Umweg durch den angrenzenden S-Bahnhof zu nehmen.
Gesagt, getan, schon stehe ich mitten im Gewimmel und stelle fest, dass es auch hier einen Ausgang vom U-Bahnhof gibt. Voll krasse Gangsta-Rapper, wunderschöne Straßenkunst und den Kick zwischendurch hätte ich mir also sparen können. Dafür überfällt mich nun der mannigfaltige Geruch nach fetttriefenden Burgern, sehr totem Fisch, asiatischen Köstlichkeiten und Erbrochenem. Ein Ort zum Wohlfühlen.
Vorbei an aufgestylten Mädchen mit Kriegsbemalung und ihren männlichen Begleitungen, die jeden männlichen Mitmenschen in ihrer Umgebung anmachen, schlängele ich mich zum Ausgang Gontardstraße, der mich zum Fernsehturm führen müsste.
Und auch führt!
Schnellen Schrittes überquere ich den Platz, bin kurz darauf am Eingang. Unterwegs haben mich nur zwei Flyerverteiler, von denen einer mich hartnäckig zum Besuch einer Veranstaltung in der Nähe überreden wollte, angesprochen. Ich fühle mich heroisch, weil ich sie so schnell abwimmeln konnte.
Nach einer gefühlten Ewigkeit bin ich endlich im Aufzug. Steige aus. Stehe in 207 Metern Höhe und blicke aus sicherer Entfernung über Berlin. Hinter mir quietschen aufgetakelte Mittfünfzigerinnen am Souvenirstand und erleichtern ihre Ehemänner für überteuerten Kitsch um ihr hartverdientes Geld. Wer will auch nicht ein Stück von dieser herrlichen Stadt und ihrer ganz eigenen Kultur besitzen?
Berlin, du bist so wunderbar.

06-06-2010

Rückkehr

Dunmore East. Wie lange bin ich nicht mehr hier gewesen – vier Jahrzehnte? Fünf?
Von weitem kann ich den Leuchtturm ausmachen, der wie damals das Meer fest im Blick hat. Der braune Stein ist verwittert, das rote Geländer und der weiße Ausguck sind frisch gestrichen. Kaum etwas hat sich in meiner Abwesenheit verändert. Ganz so, als sei die Zeit stehengeblieben, hier in diesem Dorf im Südosten Irlands. Doch überall auf der Welt ist sie weitergelaufen, hat meine Haut faltig und mein Haar grau gemacht.
Wie lange ich schon laufe, weiß ich nicht mehr. Eine kühle, starke Brise weht vom Meer her. Die Sonne hängt nur noch eine Handbreit über dem Wasser, als ich die Landspitze mit dem Leuchtturm erreiche. Der Weg vom Dorf hierher, war er schon immer so beschwerlich gewesen? Als Kinder sind wir oft hier hinauf gelaufen – jeden Tag – und haben gespielt und die Schiffe beobachtet, die am Horizont entlangfuhren.
„Wenn ich groß bin, will ich auch mal auf einem Schiff fahren!“, erklärtest du lachend und wir erträumten uns, welche großartigen Abenteuer du dann erleben könntest.
„Und ich, ich werde ein Flugzeug bauen und dann werde ich neben deinem Schiff herfliegen!“, erwiderte ich. Dein Lächeln war so voller Freude, dass ich wirklich daran geglaubt hatte, es könne gar keine andere Zukunft für uns geben.
Fortan last du viele Bücher über Schiffe und das Meer, wenn wir zur Küste gingen. Ich beobachtete dich dabei oder vergnügte mich damit, die Möwen am Himmel zu zählen.
Viele Sommer waren so vergangen und ich hatte erkannt, dass die Welt nicht einfach Träume erfüllt. Immer mehr schlichen sich unsere Pläne aus unseren Augen. Nichts als süße Wünsche, Kinderträume, die wir uns lachend ausmalten und niemals erreichen konnten.
Ich dachte, dir ginge es genauso.
Doch eines Tages warst du fort.
„Ich gehe zur Marine!“ Das Strahlen deiner Augen und dein Lächeln entwaffneten mich – ich ließ dich ziehen. Blieb allein zurück. Lange ging ich allein zum Leuchtturm, beobachtete die Schiffe, die am Horizont entlangfuhren. Aber keines brachte dich zurück.
Anfangs bekam ich so oft es ging Briefe von dir. Aus aller Herren Länder schriebst du mir, sagtest mir, wo du gerade warst und fragtest mich, wann ich mit dem Flugzeug zu dir kommen würde. Ich habe nie geantwortet.
Nach ein paar Monaten wurden die Briefe seltener, schließlich bekam ich den letzten vor genau vierzig Jahren. Ich wartete einen weiteren Monat, zwei, drei. Dann zog ich weg. Nach Dublin, um mir eine Arbeit zu suchen. Zuerst schälte ich Kartoffeln in einem drittklassigen Lokal, dann putzte ich in einer kleinen Herberge. Flugzeuge habe ich nie gebaut.
Den Blick aufs Meer gerichtet, lasse ich den Leuchtturm hinter mir, wandere weiter über die Ebene. Als ich noch gute tausend Schritte weit gelaufen bin, bleibe ich stehen. Die Sonne verschmilzt in der Ferne mit dem dunklen Wasser. Der Wind erfasst mein Haar und spielt damit, zerrt an dem kleinen Holzflieger, den ich mit Hilfe des Nachbarjungen gebaut habe. Ich habe ihn angemalt mit deinen Lieblingsfarben: Meerblau und Sonnengelb. Einen kleinen Brief habe ich am Rumpf befestigt – meine Antwort für dich nach vierzig Jahren.
„Du hast deine Träume verwirklicht, weil du etwas dafür getan hast. Und ich habe geglaubt, alles würde einfach passieren, wenn man es sich nur einmal wünschte“, flüstere ich, der Wind reißt mir die Worte von den Lippen. „Es ist nicht groß und ich kann nicht mitfliegen. Aber vielleicht erreicht es dich, wo immer du nun bist.“
Ich hole aus und schieße das kleine Flugzeug – wie tausendmal geübt – mit einer ausladenden Bewegung in Richtung Meer. Eine Böe erfasst es und trägt es hoch in die Lüfte.
Am Horizont fährt ein Schiff auf den letzten Spuren der Sonne. Es segelt auf mich zu.

07-02-2010

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Die meisten der hier vorgestellten Texte entstanden innerhalb des Schreibens gegen die Zeit (SGZ) des Autorenforums Doppelpunkt oder des Autorenforums buCHreif. Beim SGZ gilt es, innerhalb von 60 Minuten zu einem bis dahin unbekannten Thema eine Kurzgeschichte zu schreiben.

Leseprobe »Springbock nach Art des Hauses«

Jason war 15. Aber das stand nicht in seinen Papieren. Seit drei Jahren bekam er an einem bestimmten Tag neue, in denen sich das geschriebene Geburtsjahr seinem tatsächlichen annäherte. Seit drei Jahren war er 18.
Er wohnte auch nicht in der Kantstaße 14. Nein, das war die Wohnung von Gernot, diesem bulligen Kerl, dessen Alter Jason nicht schätzen konnte und der auf ihn aufpasste.
Eigentlich hieß Jason auch gar nicht Jason, sondern Aljoscha. Aber die Männer, die sich seiner angenommen hatten, hatten diesen Namen nie aussprechen können. »mehr

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